Der Schamanismus

von Dr. Ingo Nentwig, Museum für Völkerkunde zu Leipzig (WWW-Bearbeitung: Joachim Otto Habeck)

Schamanismus ist ein religiöses Phänomen, das europäische Reisende und Forscher schon seit den ersten Entdeckungsreisen nach Sibirien besonders fasziniert hat. Bis heute gibt es aber keine allgemein anerkannte, einheitliche Definition des Begriffs. Einig sind sich die meisten Ethnologen und Religionswissenschaftler darin, daß es sich nicht um eine Religion handelt, sondern um eine Erscheinung, die in vielen Religionen vorkommen kann, nämlich um die Tätigkeit eines sozial-religiösen Spezialisten, der zwischen seiner menschlichen Gemeinschaft (Sippe, Klan) und der Welt der Geister vermittelt. Dabei versetzt er sich mittels Tanz und Trommelbegleitung in einen Zustand der Ekstase, die als äußerer Anschein einer Seelenreise, z.B. ins Totenreich, oder einer Inkorporation bestimmter Geister durch den Schamanen aufgefaßt wird. Sein traditioneller Aufgabenbereich reicht von der Leitung oder Anleitung der Übergangsriten, vor allem im Bereich des Übergangs vom Leben zum Tode, über die Divination bis hin zur Heilung von Krankheiten, wobei die Krankheit grundsätzlich als ein von Geistern verursachtes Phänomen begriffen wird.

Der eigentliche Schamanismus läßt sich geographisch auf Zentral- und Nordasien sowie zirkumpolare Gebiete Europas und Amerikas begrenzen. Die Gemeinsamkeiten, die der Schamanismus bei den unterschiedlichen Völkern dieser Region zeigt, hebt ihn deutlich von ähnlichen religiösen Erscheinungen Südasiens, Amerikas und Afrikas ab.

Das Wort "Schamane" für den religiösen Funktionsträger stammt aus den manju-tungusischen Sprachen. Es ist erstmals in dem historischen Werk Sanchao Beimeng Huibian von Xu Mengshen, das 1194 im Druck erschien, schriftlich belegt. Dort erwähnt der chinesische Historiker diesen Begriff als Bezeichnung der Jurcen ("Dschurtschen"), der Vorfahren der Manju, für ihre "weiblichen Magier". Diese Bemerkung unterstützt mündliche Überlieferungen bei vielen Völkern, die behaupten, daß es früher ausschließlich Schamaninnen gegeben habe, oder daß Schamaninnen mächtiger als Schamanen gewesen seien. Im Zuge des russischen Vordringens nach Sibirien fand der Begriff "Schamane" schließlich im 17. Jh. auch seinen Weg in die europäischen Sprachen. Der religiöse Funktionsträger heißt jedoch nicht überall in Nordostasien "Schamane". In den mongolischen Sprachen ist z.B. das ältere Wort, vorwiegend für Schamanin, idûgan/ûdagan/yadgan, das jüngere, für den männlichen Schamanen boo/boge.

In den letzten zwei Jahrhunderten ist der Schamanismus durch das Vordringen von sogenannten Hochreligionen schrittweise verdrängt worden, bei den Sámi (Lappen) und vielen sibirischen Völkern durch das Christentum, bei den meisten Turkvölkern durch den Islam und bei den mongolischen Völkern durch den Buddhismus tibetischer Schule. In Sibirien und im Nordosten der VR China sind nur noch sehr wenige echte Schamanen aktiv. Oft zeigen jedoch die von den Völkern jeweils praktizierten "Hochreligionen" mehr oder weniger stark ausgeprägte Überreste schamanischer Riten oder Vorstellungen.

Grundlage der Tätigkeit des Schamanen ist zunächst die Vorstellung einer vertikal geschichteten Welt. Die mittlere ist die Welt der Menschen. Ober- und Unterwelt sind bei vielen Völkern, oft unter buddhistischem Einfluß, nochmals in mehrere Stockwerke untergliedert. Das Totenreich, das der Schamane im Rahmen seiner Tätigkeit besucht, verstand man oft auch als horizontal im Norden liegend, in den meisten schamanischen Vorstellungen fällt es aber inzwischen mit der unteren Welt zusammen. Die Welten sind durch eine Mittelachse, symbolisch meistens durch einen Baum oder Pfahl dargestellt, miteinander verbunden. Himmlischer Ausgangspunkt dieser Achse ist der Polarstern.

Die wichtigste Tätigkeit des Schamanen ist die spirituelle Reise in die obere und untere Welt, bei der sich seine Seele in Ekstase bzw. in postekstatischer Ohnmacht vom Körper trennt. Dabei geleitet er die Seelen von Verstorbenen an ihren Bestimmungsort oder er versucht z.B., die entführte Seele eines erkrankten Kindes zurückzuholen.

Die Fähigkeit, solche Seelenreisen zu unternehmen, geht auf eine Berufung und Initiation durch eine Gruppe von Geistern zurück, die in einer besonderen Beziehung zur sozialen Gruppe des jeweiligen Schamanen stehen. Oftmals sind unter ihnen Ahnengeister der Sippe, die vom verstorbenen Sippenschamanen auf seinen Nachfolger übergehen. Der Geist des verstorbenen Schamanen führt als "Schamanen-Ahne" die Gruppe der Ahnengeister an.

Die Berufung äußert sich zunächst als schwere Krankheit, die nur durch das Einverständnis des Initianden, Schamane werden zu wollen, geheilt werden kann. Die Krisis der Schamanenkrankheit, äußerlich ein Zustand der Ohnmacht oder des Komas, verbunden mit hohem Fieber, Phantasieren, mit Schweiß- und manchmal auch Blutaustritt aus den Hautporen, wird als erste Jenseitsreise erlebt, während der der Initiand seine zukünftigen Hilfsgeister kennenlernt. Schamanen berichten, daß sie in dieser Phase sahen, wie ihr Körper von "Unterweltsdämonen" oder Krankheitsgeistern zerstückelt, das Fleisch von den Knochen getrennt, gekocht und dann wieder auf das Skelett aufgetragen wurde. Die Knochen waren inzwischen in Feuer geschmiedet worden. Nach diesem Erlebnis bessert sich der Gesundheitszustand des Initianden wieder. Seine erste Seelenreise ist beendet, er ist aus dem Totenreich zurückgekehrt und dadurch ein anderer geworden, d.h. die Initiation ist vollzogen. Die darauffolgende Schulung bei einem erfahrenen Schamanen und die abschließende Weihezeremonie sind nur noch formale Elemente, die dazu dienen, den neuen Schamanen in sein Amt einzuführen.

Der Schamanen-Ahne des Initianden, sein späterer Schutzgeist, übergibt im während der Initiation seine Hilfsgeister, die den Schamanen zur Jenseitsreise, vor allem zur Rückkehr aus der anderen Welt befähigen. Unter den überwiegend tiergestaltigen Hilfsgeistern befindet sich ein "Haupthilfsgeist", auch "Tiermutter" genannt. Er verkörpert die Lebenskraft des Schamanen und ist sein tierisches Alterego, meistens ein Stier oder ein Rentier. In der Gestalt ihrer Alteregos tragen Schamanen Duelle untereinander aus. Die Schamanenduelle, die nicht selten mit dem Tod eines der Beteiligten enden, sind ebenfalls ein unerläßliches Merkmal des echten Schamanismus. Das Verhältnis zwischen dem Schamanen und seinen Hilfsgeistern ist zwiespältig. Sie sind keine einfach zu gebrauchenden Werkzeuge, derer sich der Schamane bedienen kann. Vielmehr zeichnen sie sich durch Unberechenbarkeit, Aufsässigkeit, Ungehorsam, Widerspenstigkeit, z.T. Grausamkeit aus. Um ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, muß der Schamane sie bitten, oft geradezu anflehen, er muß ihnen opfern und manchmal kann er sie auch zwingen.

In den Schamanenzeremonien und den damit verbundenen Gesängen bringt der Schamane die wesentlichen Elemente der Weltanschauung seines Volkes zum Ausdruck und prägt sie so den Teilnehmern und Zuschauern ein. Bei einigen Völkern finden sich die bedeutendsten Rhapsoden von Epen und Balladen unter den Schamanen.

In der Zeit zwischen dem Tod des alten und der Initiation des neuen Schamanen durchläuft die menschliche Gemeinschaft eine schwere Krise, da niemand zwischen den Menschen und der Welt der Geister vermitteln kann. Die Krise äußert sich durch gehäuft auftretende Krankheiten, Todesfälle, Streitereien bis hin zu Mord und Totschlag, mangelndes Jagdglück, schlechte Ernten und andere unglückliche Ereignisse. Auch kann die Schamanenkrankheit bei mehreren Nachfahren des verstorbenen Schamanen gleichzeitig auftreten, ein Zustand, der erst durch die Initiation eines der Kandidaten beendet wird.

Der Schamane genießt in seiner Gemeinschaft normalerweise ein hohes Ansehen. Trotz seiner besonderen Stellung unterscheidet er sich in seiner Lebensweise kaum von den anderen. Er ist Jäger, Fischer, Rentierhirt oder Bauer – und obwohl sein Schutz für die Gemeinschaft unentbehrlich ist, bezieht er hierfür keine oder nur geringe Einkünfte. Die Erscheinung von umherziehenden, nicht mehr sippengebundenen Schamanen, ist eine Begleiterscheinung des Niedergangs schamanischer Kultur.

Lesenswerte Literatur zum mongolischen Schamanismus
(zur korrekten Darstellung der mongolischen Schrift kann die entsprechende Software unter http://members.aol.com/ayuu/download.html  heruntergeladen werden)

  • BÔYANBATÛ, H. Ke boyeeBedö MoÑGo| buKaá iiä ‹esiä ö Ocir Mônggôl ûn boge yin xasin û ûqir (Kurze Darstellung des mongolischen Schamanismus). Nei Menggu wenhua chubanshe [Kulturverlag der Inneren Mongolei]: Hailar 1984/1985. 2 +8+189 S.

  • ERDEMTU ERdemdö Mo Ñ Go| buKaá iiä ‹esiä JicÏ Uje| SeneGeä ö DeoKaá Mônggôl ûn boge yin xasin jiqi ujel sanagan û teuhe (Der mongolische Schamanismus und seine Geistesgeschichte). Minzu chubanshe [Nationalitäten-Verlag]: Beijing 2001. 7+2+297 S.

  • HURELXE kuRelŒä u. BAI, CUI ING BaÏ WuÏ Ie~ u. NAQIN Neciä u. Bûyanqôgla boyeecoqlä QoRciä buKaá MuRko| Sodolo| Hôrqin boge morgul un sûdûlûl  (Forschungen zum Schamanismus der Hôrqin-Mongolen). Minzu chubanshe [Nationalitäten-Verlag]: Beijing 1998. 8+4+645 S.

  • HÛRQABAGATÛR, L. QoRceBeGedor QedeKiä ARBeä Beä Ade}> DeKRÏ iiä Deiil Hatagin arban gûrban ataga tngri yin tailga  (Die dreizehn Opfer der Hatagin-Mongolen an Ataga-Tngri). Nei Menggu wenhua chubanshe  [Kulturverlag der Inneren Mongolei]: Hailar 1986/1987. 4+5+198 S.

  • HÛRQABAGATÛR, L. L QoRceBeGedor u. UJUME, L. C Ujo{á MoÑGo| buKaá MuRko| Deiil} DeKil} iiä Soyo| Mônggôl ûn boge morgul un tailga tahilga yin sûyûl  (Die Opfer-Kultur des mongolischen Schamanismus). Nei Menggu wenhua chubanshe [Kulturverlag der Inneren Mongolei]: Hailar 1991. 4+3+427 S.

  • TAIQIGÛDAI • MANSANG DeiiciGodaÏ Meesee~ MoÑGo| buKaá MuRko| Mônggôl boge morgul  (Der mongolische Schamanismus). Nei Menggu renmin chubanshe  [Volksverlag der Inneren Mongolei]: Hohhot 1990. 2+6+318 S.


Autor: Dr. Ingo Nentwig / Editor: Joachim Otto Habeck, 30. April 1997 / Kontrolle: Joachim Otto Habeck, 30. Oktober 1999 / Nachbearbeitung: Dr. Ingo Nentwig, 1. August 2003

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