Nebelung
Der Jahresanfang 1945 in Paulsdorf Krs. Rosenberg
Immer wenn die Nebelschwaden die Landschaft in ihre graue Decke hüllen, schweifen unsere
Gedanken zu den Gräbern, Friedhöfen und Geschehnissen, die den Tod zum Inhalt haben.
Karl Edelmann aus Paulsdorf, der die Geschichte seines Heimatortes mit beachtlichem
Aufwand dokumentierte, vermiesste Zeugenaussagen zu den Geschehnissen im Januar 1945 nach dem Einmarsch der Roten Armee. Er gab sich große Mühe, diese Lücken zu füllen und fand Zeugen, die bereit waren, ihr Wissen
auf Papier festzuhalten. Einer von ihnen war Magister Konrad Hanisch, dem wir die folgenden Aufzeichnungen verdanken.
“Da wir nur noch allein im Vorwerk geblieben waren, waren die Nächte für uns
verständlicherweise voller Gefahren, und so gingen wir, nachdem wir das Vieh versorgt hatten, ins Dorf zu meiner Tante, zur Familie Hesprich. Bei den Nachbarn Kornhof, Klenke und Zacheus waren noch die polnischen
Arbeiter zurückgeblieben, von denen man nicht wusste, wie sie sich uns gegenüber verhalten würden. Gleich in den ersten Tagen nach Einmarsch der Russen, noch im Januar, kamen zwei deutsche uniformierte und
bewaffnete Landser in den späten Abendstunden aus dem Wald bei hellem Mondschein auf dem verschneiten Weg vom Wald her auf unsere Häuser zu. Zuvor waren zwei oder drei Russen mit einem Pferdegespann zu Klenke
gekommen und verbrachten dort die Zeit mit einer Ukrainerin, die bei Klenke gearbeitet hatte. Die Russen beauftragten den auch bei Klenke bisher beschäftigten Polen mit dem Vornamen “Radek” draußen Wache zu halten.
Als dieser die Landser kommen sah, rief er die Russen, diese stellten die ahnungslosen Soldaten und erschossen sie. Über den Hergang berichtete uns der Pole “Heniek”, der bei uns beschäftigt war. Alle Wertsachen
einschließlich Stiefel nahmen die Russen den Toten ab. Die Leichen blieben dann im Graben am Zaun unseres Gartens liegen.
Einige Tage später, es war Anfang Februar, trafen
wir nach unserer Rückkehr aus dem Dorf einen ganzen Trupp deutscher Soldaten bei uns im Haus an. Sie haben sich vom Weichselbogen, in der letzten Zeit hinter den Russen her, bis zu uns durchgeschlagen. Im Schutz der Landser blieben wir dann auch zwei, drei Tage zu Hause. Dann entschieden sich diejenigen, die noch gut bei Kräften waren, weiter nach Westen zu ziehen.
Zurück blieben acht Soldaten, die
relativ stark geschwächt waren. Zwei waren bei Zacheus, fünf im ehemaligen Forsthaus, d. h. im Haus meines Onkels Mende und einer blieb bei uns. Zwischenzeitlich hatten sich alle Zivilkleidung besorgt, die ja überall in den Wohnungen zu finden war. Es vergingen so einige Tage ohne besondere Vorkommnisse. Einmal tauchte ein Pole auf, der früher bei Zacheus gearbeitet hatte, und wollte die Wohnung plündern, was ihm aber wegen der Anwesenheit, der Soldaten unangenehm war. Vor uns äußerte er sich aber, dass, hätte er eine Maschinenpistole bei sich, das Problem für ihn schnell zu lösen gewesen wäre. Unverrichteter Dinge fuhr er weg. Am nächsten Tag tauchten plötzlich zur Mittagszeit mehrere Russen auf. Wir saßen gerade beim Essen zusammen mit dem Landser, der bei uns geblieben war. Meine Mutter sah als erste die Russen und rief: versteckt euch! Da fielen auch schon die ersten Schüsse. Zuerst wurde unser Bernhardiner erschossen, der sich den Russen in den Weg gestellt hatte. Auf die Einzelheiten des Geschehens möchte ich hier nicht mehr eingehen, denn die folgenden Szenen in ihrer Grausamkeit, die Misshandlungen, denen die Gefangenen ausgesetzt waren, möchte man nach so langer Zeit nicht wieder auffrischen. Kurz. Es fanden sechs Soldaten den Tod, wobei vier von ihnen durch Kopfschüsse bzw. Genickschuss getötet wurden. Einer, ein 19-jähriger Gefreiter mit Namen Jäger aus Ostpreußen, versuchte sich in dem nur spärlich vorhandenen Heu auf dem Boden im Haus meines Onkels zu verstecken, die Russen durchsiebten ihn förmlich, indem sie in das Heu schössen. Zwei Soldaten flüchteten in Richtung Wald, durch den in den letzten Tagen durch Tauwetter stark aufgeweichten Boden, die Russen schössen hinterher.
Ich wurde (mein Glück im Unglück) durch einen Kolbenschlag niedergestreckt, der wohl
tödlich sein sollte. Als ich wieder zu mir kam, waren die Russen bereits weg. Mein Vater und der westpreußische Landser Artur Gröhl wurden nicht gefunden. Einer der in den Wald Geflohenen hatte einen
Oberschenkelsteckschuss, dessen Kugel mit einem Taschenmesser entfernt wurde. Der Zweite, ein Feldwebel, kam mit einem Bauchdurchschuss zurück setzte sich, nachdem Theophil und ich ihn notdürftig verbunden hatten,
auf einen Stuhl in der Küche der ehemaligen Försterei. In dieser Position verstarb er im Laufe der folgenden Nacht. Jäger war inzwischen aus dem Heu hervorgekrochen, hatte sich die Treppe herunter geschleppt und
sich im Schlafzimmer ins Bett gelegt. Theophil und ich haben ihm Notverbände angelegt, doch, wie bereits erwähnt, war er förmlich durchsiebt. Er wollte unbedingt von seinem noch lebenden Kameraden erschossen werden.
Eine Pistole hatten sie vorsorglich im Kachelofen versteckt gehabt. Doch wer erschießt einen Kameraden, auch wenn keine Hilfe mehr zu erwarten war? Auch er verstarb im Laufe der Nacht.
Man kann sich wohl kaum vorstellen, wie die Stunden des Geschehens auf uns Überlebende gewirkt haben.
Die polnischen Arbeiter und die Ukrainerin waren zuvor schon alle weg, nur Theophil war
noch geblieben. Gröhl und der Soldat mit dem Oberschenkelsteckschuss versuchten sich gemeinsam durchzuschlagen. Von Gröhl bekamen wir nach mehreren Monaten eine Nachricht aus polnischer Gefangenschaft. Danach nicht
mehr. Auch Theophil fuhr nach Hause. Wir, meine Eltern und ich, verließen das Haus, brachten das Vieh ins Dorf, welches im Laufe der nächsten Zeit von Polen und Russen requiriert wurde. Unmittelbar nach dem
Geschehen wurde von den Russen angeordnet, dass alle Männer und Jugendliche sich zu stellen haben. Wir sollten also beide, Vater und ich, interniert werden. Wir beschlossen, dass ich zurück bleibe. Zwischenzeitlich
wurden alle Wohnungen, auch unsere am Vorwerk, von Polen und teilweise auch von Russen geplündert. Die Leichen der erschossenen Soldaten blieben wochenlang liegen. Die beiden Toten im ehemaligen Forsthaus haben
längere Zeit die Plünderer ferngehalten. Der auf dem Stuhl immer noch sitzende Tote, der Tote im blutdurchtränkten Bett erschwerten das Plündern, doch schließlich wurde selbst das Bettzeug unter dem Toten weggezogen
und mitgenommen.
Erst in der zweiten Märzhälfte, wenn ich mich recht erinnere, wurden die Toten an der
Straße vor dem Garten von Zacheus in einem Massengrab beerdigt. Nach Aussagen noch lebender Paulsdorfer Bürger haben beherzte Männer, unter ihnen Karl Grus, sein Schwiegersohn Herr Bur aus Landsberg, Herr Alfred
Krafzik und Herr Hesprick, der Vater von Herrn Franz Hesprick, die Erstbestattung der toten Soldaten vorgenommen. Zu diesem Entschluss führte die Unansehnlichkeit und der Geruch der sterblichen Überreste. Nachdem
man das Grab ausgehoben hatte, holte man aus dem verlassenen Haus der Familie Kornhof Federbetten und legte darauf die Toten. Anschließend deckte man diese mit anderen Federbetten zu. Ich habe ein Holzkreuz in den
Grabhügel gesteckt, das jedoch danach von den zwischenzeitlich angesiedelten Polen zerbrochen wurde.
Zur Pflege des Grabes bis zur Umbettung nach Josefshöhe äußert sich die damals
10-jährige Marlene Pasinska geb. Makiela: “... Das Grab habe ich gepflegt, weil die Erwachsenen vor den Neusiedlern Angst hatten, denn die Bestatteten waren schließlich ,nur' deutsche Soldaten. Meine Tante
belieferte mich laufend mit Blumenpflanzen, mit denen ich das Grab bis zur Umbettung bepflanzte. Die Blumen hatten kein Glück, denn die Menschen, die damals im Haus von Zacheus wohnten, hüteten ihre Kühe besonders
gern auf dem Grabhügel."
Weiter berichtet Landsmann Hanisch: “Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann es
letztendlich zur Umbettung der Toten auf den Friedhof von Josefshöhe kam. Ich weiß nur, dass ich mit Herrn Kordylla und dem Tischler Wiener aus Landsberg in der Sache tätig war. Es wurde vom Tischler Wiener ein
überdimensionaler Sarg geliefert, in welchen die sterblichen Überreste der Toten gelegt und auf den Friedhof gebracht wurden. Dank der Koselwitzer wurde das Grab über viele Jahre hinweg gepflegt, und so konnte ich
vor etwa vier Jahren bei einem Besuch dort ein Foto des Grabes, das man mit einem schmiedeeisernen Kreuz versehen hat, machen und der Witwe des Toten, des Feldwebels Neumann, schicken. Frau Neumann lebte in der DDR
und versuchte nach der Wende mit mir Kontakt aufzunehmen, um eine Bestätigung für den Tod ihres Mannes zu erhalten, da sie ja nun nach einem halben Jahrhundert in den Genuss einer Kriegerwitwenrente kommen konnte.
Hier ein Lob für die Post in Bonn, denn nach mehrfachem Wechsel unserer Anschrift hat man mich gesucht und gefunden. Frau Neumann hatte vom DRK nur unsere Anschrift vom damaligen Flüchtlingsheim."
Eigentlich genügt es nach dem Lesen dieser Zeilen die Augen zu schließen und schon
befindet man sich in Gedanken mitten im Geschehen der damaligen schrecklichen Tage. Dann schwört man sich wieder: Nie wieder Krieg!
Rosenberger Kreisblatt – Unser Oberschlesien Nr. 20/2000
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