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Die Wallfahrer
Von Valeska Gräfin Bethusy-Huc

Auf der blumengeschmückten Kanzel vor der Außenwand der Wallfahrtskirche stand ein Franziskanermönch und predigte in polnische Sprache: „Die Muttergottes liebt euch alle, die ihr weit aus Galizien und Rußland, wie aus unseren schlesischen Dörfern zu ihr gekommen seid, um aus ihren gesegneten Händen das Beste für euch zu empfangen; denn sie weiß, was euch Not tut, wie eine Mutter weiß, was ihr Kind braucht!“

Weithin schallte die kraftvolle Stimme des Predigers über die vieltausendköpfige Menschenmenge hin, die sich in dem schmalen Tal, in dem die Kirche lag, drängte, und die auf den Bergabhängen ringsumher kniete – Kopf an Kopf, Knie an Knie. Und als der Mönch „Amen!“ rief, traten junge Bergleute in ihren kleidsamen Feiertagstrachten an das lebensgroße Muttergottesbild heran, das, von weißgekleideten Jungfrauen umringt, vor der offenen Kirchentür stand. Die Bergleute hoben das Bild an den Tragstangen auf ihre Schultern, und während Posaunen und Pauken erdröhnten, begann die Menge den Weg hinanzusteigen, der von der Wallfahrtskirche bergan zum Kloster führte. Hinter den Trägern des Bildes schritten andere Bergleute, bereit die Kameraden abzulösen, wenn sie ermüdeten, und die dunkle Schar der schwarzgekleideten jungen Männer war dicht umringt von den jungen Mädchen in ihren weißen Festkleidern.

Andreas Zorka schritt als rechter Flügelmann der Bergleute daher, und seine blitzenden Augen sahen wieder und wieder zu seiner blonden Nachbarin hin, die mit ehrbar ernstem Gesicht neben ihm ging, den Blick auf den Rosenkranz gerichtet, der zwischen ihren kleinen, aber roten Händen hing. Den Händen sah man an, daß sie gearbeitet hatten, und sie paßten zu dem feinen weißen Kleide so wenig, wie dieses Kleid selbst für die zierliche Gestalt der Trägerin gemacht zu sein schien, denn es war überall zu weit und zu lang.

Andreas mußte an die gemalten Engel in der Kirche denken, die auch so rührend unbeholfen in ihren viel zu langen Kleidern aussahen. Trotzdem gefiel die Kleine ihm immer besser, je länger er sie ansah, und jetzt blickte auch sie einmal na ihm hin und wurde sehr rot dabei, denn schon während der Predigt hatte sie die Blicke des Bergmanns auf sich gerichtet gefunden, gerade als der Pater gesagt hatte, die Muttergottes gäbe jedem da Beste für ihm.

„Aber heu’ ist es heißt,“ sagte endlich Andreas leise.
„Ja freilich,“ antwortete sie.
„Du hast ein feines Kleid an,“ fuhr er fort, „oder bist du gar ein Fräulein aus der Stadt, zu dem ich ,Sie’ sagen muß?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich arbeite auf dem Felde; die Tochter von Gutsherrn hat mir das Kleid geschenkt, weil es ihr nicht mehr paßte, und zu so einer feinen Prozession muß man ein weißes Kleid haben.“
„Mir ist’s recht, wenn du kein Fräulein bist,“ meinte er, „meine Mutter wäscht für die Leute.“
„Ach, und meine ist schon tot, der Vater hat aber wieder geheiratet, habe ich es schlecht zu Hause!“
„Wie heißt du denn?“
„Ich bin die Lenka Pador aus Deschitz.“
„Lenka – das ist ein hübscher Name!“

Wieder begegneten sich ihre Blicke, und plötzlich war es Lenka, als läuteten die Glocke, die aus dem Tale herauf-, und die andern, die von dem Kloster herabklangen, einen widerschönen Choral, der nur zwei Worte enthielt: „Das Beste, das Beste!“

Da fiel es ihr ein, daß es vielleicht sündhaft sei, bei einer Prozession an etwas andres zu denken als an die lieben Heiligen, und sie fragte den Bergmann: „Wie heißt denn dein Schutzpatron?“

„Ich bin nach dem heiligen Andreas getauft,“ antwortete er,

Da betete Lenka recht inbrünstig zum heiligen Andreas.

Jetzt hatten sie das Kloster erreicht. Die Wallfahrer drängten hinter dem Madonnabilde in den Klosterhof hinein, denn der Hof war nicht groß genug für alle, viele mußten vor dem Tore stehen bleiben. Sie drängten Andreas und Lenka dicht aneinander. Und wie die beiden jungen Stimmen jetzt in das Wallfahrtslied, das der Vorsänger angestimmt hatte, einfielen, da war es beiden, als hätten sie nur noch eine Stimme und gehörten zueinander. Nach dem Lied kam wieder eine Predigt, und die ganze Zeit standen Andreas und Lenka aneinandergelehnt, ihre Wangen glühten, und ihre Blicke tauchten ineinander.

„Liebt die Heiligen und liebt euch untereinander; ein liebvolles Herz, das ist das beste, was die heilige Muttergottes euch geben kann!“ rief der Mönch, der die Predigt beendete.

Da drückte Andreas Lenka an sich, und als sie aus dem dämmerigen Klosterhofe hinaustraten in den Sonnenschein, da schien es beiden selbstverständlich, daß sie nun zusammenblieben, und Hand in Hand gingen sie zu den Buden, wo es Erfrischungen gab.

Lenka biß mit weißen Zähnen in das Pfefferkuchenherz, daß Andreas ihr reicht, und er sah ihr zu und freute sich über sie. Hinter den Buden war ein Gehölz von Buchen und Lärchen, und zwischen den Stämmen lagerten sich die Wallfahrer und verzehrten ihr Mittagsmahl. Andreas und Lenka suchten sich ein Plätzchen unter einer alten Buche, ein wenig abseits von den andern, Vor ihnen lag das Flußtal ausgebreitet wie eine Landkarte, kariert von Feldern und Wiesen, zwischen denen die roten und braunen Dächer der Dörfer sich um die Kirchentürme drängten. Der Herbsthimmel leuchtete blau darüber, nur im Osten stand eine graue Dunstwand.

„Das ist der Rauch von unseren Hütten und Gruben,“ sagte der Bergmann, „dort bin ich zu Hause.“

„Und die Pappeln dort führen zum Gutshofe von Deschwitz, da bin ich her,“ erwiderte Lenka,

Dabei sahen beide sich an und lachten, als hätten sie einander lustige Dinge mitgeteilt.

Als die Vorräte, die Andreas gekauft hatte, aufgegessen waren, saßen die beiden schweigend da und sahen auf die Dunstwand und auf die Pappeln herab.

„Du!“ sagte Andreas plötzlich und faßte Lenkas Hand.

Da setzte Lenka sich dicht neben ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter. Und er küßte sie.

„Hast du schon einen Schatz gefunden ?“ rief ein vorübergehende Bergmann lachend.

Lenka erschrak so, daß ihr das Herz fast hörbar klopfte, aber Andreas lachte und küßte sie erst recht. Da ließ sie es sich gefallen und küßte wieder – der fremde Bergmann hatte es ja gesagt: sie war der Schatz des Andreas, und wie sie ihm in die blitzenden Augen sah und seinen Mund so warm auf ihren Lippen fühlte, hätte sie es laut hinausjubeln mögen in den Sonnenschein hinein, der die Welt in lauter Gold hüllte: „Das Beste, das Allerbeste, es ist mein, mein!“

Der Tag verging. Lenka hatte nie einen schöneren und kürzeren erlebt!

„Du,“ sagte Andreas am Abend, „das Mädel, das ich heirate, muß aber ein Bett und einen Kleiderschrank und ein paar Taler Geld haben – das habe ich meiner Mutter versprochen.

„Mein Gott im Himmel, wo soll ich das denn herbekommen!“ rief Lenka. „Der Vater vertrinkt alles, und die Stiefmutter hat mit den kleinen Kindern zu tun und geht nicht auf die Arbeit. Alles, was ich verdiene, nehmen sie mir zu Hause weg; wenn die Frau Inspektor und das Fräulein mir keine Sachen schenkten, hätte ich nichts anzuziehen!“

Da war es plötzlich vorbei mit der Freude des Tages. Lenka weinte und Andreas machte ein ernstes Gesicht. Endlich sagte er: „Ich kenne eine Fuhrmannstochter, die geht jedes Frühjahr nach Sachsen auf Arbeit, und wenn sie wiederkommt, bringt sie Betten und Sachen und Geld mit – einen ganzen Haufen Geld.“

Lenka sah ihn an, als verkünde er ihr ein Evangelium.

„Nach Sachsen – ja, ich habe auch schon daran gedacht – aber der Vater wollte mich nicht lassen, denn wenn ich so weit weg wäre, könnte er mein Geld nicht vertrinken, aber ich hätte es besser dort – arbeiten muß man doch überall. Und das tue ich auch gern.“

„Nun siehst du, da kannst du dir schnell alles das verdienen, was ich der Mutter versprochen habe, und wenn’s ein paar Jahre dauert, so schadet es auch nichts, wir sind doch beide jung und können warten.“

„Ja, aber  - wirst du mich auch nicht vergessen?“

„Ach, du kleine, du!“ Er küßte sie wieder, und sie glaubte und versprach alles, was er wollte, und war glücklich.

Sie gingen nicht mit der Prozession zurück.

Allein, Hand in Hand, schritten sie über die Feldwege den Pappeln von Deschwitz zu.

„Das erste Mal bringe ich mir Betten mit aus Sachsen,“ plauderte Lenka, „das zweite Mal kaufe ich einen Kleiderschrank, und das dritte Mal behalte ich da Geld. Und dann bin ich doch erst zwanzig Jahre alt, das ist noch nicht zu alt zum Heiraten, nicht wahr?“

„Und über den Winter besorge ich dir einen Dienst in der Stadt bei unsere Grube, und da führe ich dich zum Tanz, da sollst du mal aufschauen!“ sagte Andreas.

Ueber dem Wandern und dem Plänemachen waren sie müde geworden. Der Vollmond stieg groß und rot hinter den Feldern am Himmel auf, und der Heuduft von den Grummethaufen am Rande der Waldwiese erfüllte die Luft.

„Komm, hier wollen wir uns ausruhen,“ sagte Andreas. „O, wie gut das riecht nach Wald und trockenem Grase – so was gibt es bei uns in Kohlenbergwerk nicht!“

Sie machten sich ein Heulager am Waldrande zurecht und sanken darauf nieder, müde und glücklich, eines dicht an das andre geschmiegt. Der rote Mond lachte auf sie herab, und sie lachten einander zu, bis ihre Lippen wieder aufeinander brannten und sie ihre Müdigkeit vergaßen und nur noch fühlten, daß sie glücklich, über alle Maßen glücklich waren.

Am Morgen kam Lenka mit roten Augen nach Hause. Da gab es Schelte und Aerger. Aber Lenka trocknete ihre Tränen und dachte: „Bald gehe ich in die Stadt und dann nach Sachsen, und dann – und dann“ – sie lachte still vor sich hin und ertrug Aerger und Schelte im Gefühl, daß die Madonna selbst ihr das beste Gut von Himmel und Erde, ihre frohe Liebe und das Herz des Geliebten geschenkt hatte. Der Brief aber, den sie vom Andreas erwartete, der blieb aus. Woche um Woche verging. Mit unbeholfenen Schriftzügen brachte sie am Ende einen Brief an ihn zustande, en sie der Post übergab. Wieder vergingen Wochen. Endlich schrieb Andreas, er habe Tagschicht gehabt und sei nur des Abends heraufgekommen, da hätte er sich nicht nach einer Stelle für Lenka umsehen können. Von nächsten Monat ab habe er Nachtschicht, da sei er am Tage frei, und er würde ihr bald wieder schreiben. Schlimm sei es nur, daß seine Mutter krank wäre und nichts mehr verdienen könnte.

Nun wartete Lenka wieder. Sie kränkelte und hatte an nichts mehr Freude. Endlich wurde ihr klar, wie es um sie stand. Sie konnte keinen Dienst mehr suchen – im Frühjahr würde sie ein Kind haben. Die Stiefmutter schalt und wetterte, der Vater prügelte sie. Sie lief wie eine Verzweifelte den ganzen tag umher, sie hatte kein Geld, um zu Andreas zu fahren, der Vater hatte ihr alles weggenommen, und die Leute, die sie nach dem Wege zu den Bergwerken fragte, sagten, das sei zu weit, zu Fuß könnte man da nicht hingehen. Dazu fiel Schnee in dichten Massen, und der Wind fegte über die Straßen und heulte um die Dörfer. Wochen Monate vergingen. Lenka schämte sich, an Andreas zu schreiben – sie wartete – wartete. Eines Tages kam ein Brief von ihm. Er schrieb:

„Liebe Lenka!
Ich kann nicht mehr dein Schatz sein, meine Mutter ist immer noch krank und quält mich zu sehr, Ich muß etwas für sie tun. Und sie sagt, ich kann nicht so lange werten, bis du das Bett und den Schrank und das Geld hast. Wenn ich an dich denke und an die Prozession und an alles, da ist mir grade, wie wenn sie mir einem Messer das Herz entzweischneiden würden. Aber ich kann mir doch sonst nicht helfen und dir auch nicht. Darum bin ich
Dein sehr traurige Andreas.“

Nachdem Lenka diesen Brief gelesen hatte, ging sie hinaus in den Schnee, die Chaussee entlang, auf der der Wind ihr entgegenblies, bis zum Bahndamm. Und dann lief sie neben dem Bahndamm entlang, in der Richtung der Bergwerke. Mochte es noch so weit sein, einmal mußte sie doch hinkommen! Und hin mußte sie, die mußte Andreas Sprechen.

Drei Tage später brachten fremde Leute sie auf einem Strohschlitten zu ihren Eltern zurück. Man hatte sie halb erstarrt im Schnee gefunden und in das nächste Dorf gebracht. Dort hatte ein Arbeiter sie erkannt, und ein Bauer der sie gefunden, dachte, daß es immer noch ein besseres Geschäft sei, sie zurückzufahren zu ihren Leuten, als sie zu verpflegen.

Lenka sah mit fieberglühenden Augen um sich – sie erkannte niemand und sprach wirres Zeug durcheinander.

„Sie muß sterben,“ sagten die Leute.

Aber sie blieb am Leben. Nur das Kind unter ihrem Herzen starb, noch ehe es gelebt hatte.

„Wäre sie doch auch gestorben, ein Krüppel bleibt sie doch ihr Leben lang,“ sagte die Stiefmutter zu Lenkas Vater, der so betrunken war, daß er kaum verstand, was sie meinte.

Der Frühling kam mit tausend Blüten.

Lenka war lahm an beiden Füßen. Auf den Händen kriechend, schleppte sie sich vor die Hüttentür und sah die Sachsengängerinnen vorübergehen, die zur Station wollten. Und ringsum blühten die Obstbäume, und die Vögel zwitscherten, als sei lauter Lust und Freude auf der Welt. Da kroch Lenka in die Hütte zurück, verbarg den Kopf auf dem Stroh ihres Lagers und weinte bittere Tränen.

In der Nacht kam ein Gewittersturm. Ein Kirschbaum voller Blüten wurde umgebrochen. Am Morgen sah Lenka ihn vor dem Fenster liegen. „So voller Blüten und doch tot!“ dachte sie, und ihr war, als sei der Kirschbaum ein Stück von ihr selbst. Aber sie konnte das, was sie fühlte, nicht in klare Gedanken fassen.

Und den Kirschblüten folgten die Rosen und den Rosen das reife Korn.

Die Kirchenglocken läuteten den größten Festtag der Gegend ein. Morgen ging die Prozession aus dem Dor zur Muttergottes von Poremba.

„Ich gehe mit!“ sagte Lenka. Man lachte sie aus mit ihrem verkrüppelten Füßen. Aber schließlich nahm sie doch ein mitleidiger Bauer in seinem Korbwagen mit bis zur kleinen Stadt am Fuß des Wallfahrtsberges.

„Nun mußt du schon sehen, wie du weiterkommst,“ sagte er dort. Sie nickte. Und sie kam weiter, langsam, aber stetig. Sie kroch auf den Händen und Knien den steinigen Weg entlang bis zur Wallfahrtskirche von Poremba. Dort setzte sie sich am Wegrand nieder und wartete. Es waren schon viele Wallfahrer dort, aber die Bergleute und die Jungfrauen in den weißen Festkleidern fehlten noch. Endlich kamen sie, und Lenka vergaß einen Augenblick ihre kranken Füße und richtete sich auf, um besser sehen zu können; aber vor Schmerz stöhnend sank sie in die Knie. Nun wand und drehte sie sich hin und herum um zwischen den Menschen die Bergleute sehen zu können, und endlich wußte sie es: der Andreas war nicht darunter.

Der Pater begann seine Predigt; aber vor Lenkas Ohren klangen immer nur die Worte, die sie im vorigen Jahren an dieser Stelle gehört hatte.

„Das Beste für jeden und jede gibt die Madonna. Das Beste, das Beste – o heilige Muttergottes, was ist denn nun das Beste für mich?“ schrie es in Lenkas Herzen.

„Heilige Muttergottes, ich möchte ihn nur ein einziges Mal wiedersehen,“ betete Lenka, „heilige Muttergottes, wenn es noch etwas Gutes für mich geben kann, so ist es das!“

Und als sie jetzt zur Madonna hinüberblickte, war es, als sähen die Augen der Heiligen sie an, gerade sie, unter all den Tausenden. Da wurde es in Lenkas Herzen ruhig.

„Ja, du weißt, was das Beste ist,“ betete sie, du hast es mir schon einmal gegeben, aber dann ist es mir verdorben worden. Der Schnee – die Menschen – ach, ich weiß ja nicht, wie es kam, daß es so schlimm wurde, aber als du es mir gabst, da war es doch so schön – so wunderschön!“

Nun hoben die Bergleute das Bild auf und trugen es den Berg hinan. Da konnte Lenka nicht mehr mit. Sie saß am Wege und sah dem Zuge nach solange als möglich. Sie vergaß, wo sie war, ihre Seele zog mit dem Bilde und der Schar der Bergleute und der Mädchen. Als sie endlich um sich blickte, da war sie ganz allein auf dem Felde, nur die Glocken läuteten unten im Tale und oben im Kloster. Sie begann zurückzukriechen nach der Stadt, aber der Weg wurde ihr so schwer, so schrecklich schwer. Rote Funken tanzten ihr vor den Augen von der Anstrengung, sie mußte ab und zu liegen bleiben, um Kräfte zu sammeln. Der Weg war lang, endlich erreichte sie dennoch das Wirtshaus vor der Stadt. Sie mußte sehr lange Zeit unterwegs gewesen sein, denn schon kehrten einzelne Wallfahrer zurück. Ein Bergmann war darunter, und Lenka, die mit keuchender Brust neben der Türschwelle liegen geblieben war, raffte sich auf, als sie ihn bemerkte. Sie sah so flehend zu ihm auf, daß der Mann in die Tasche griff, um ihr ein Almosen zu reichen.

„Nein, nein,“ keuchte sie, „das nicht, aber sagt mir, wenn Ihr könnt was aus dem Andreas Zorka geworden ist, und warum er nicht bei der Prozession war?“

„Der Andreas Zorka ?“ wiederholte der Bergmann. „Ja, meinst du denn den, der im Frühjahr geheiratet hat? Meinst du den?“

„Geheiratet?“ wiederholte Lenka und wurde dabei blaß bis in die Lippen.

„Na ja, die Fuhrmanns Marie, die Sachsengängerin, die sich wunder wie groß tat – aber was siehst du mich denn so an? Wenn dich’s grämt, kannst du dich trösten! Vor vierzehn Tagen haben wir ihn tot aus dem Schacht heraufgebracht – schlagendes Wetter, weißt du – die Fuhrmanns Marie ist nun eine Witwe!“ Er schritt vorüber.

Am Abend, als der Bauer, der Lenka hergebracht hatte, sich nach ihr umsah, mußte er lange suchen. Endlich fand er sie ausgestreckt hinter einem Holunderbusch, der in der Nähe der Haustür stand. Er glaubte, sie sei eingeschlafen, und rüttelte sie unsanft. Sie gab kein Lebenszeichen mehr.

Sie holten den Doktor, der zuckte die Achseln und sagte: „Kein Wunder, an so einem heißen Tage so eine Anstrengung bei so schwachem Körper – Herzschlag, natürlich! Die Leute sind zu unvernünftig!“

Die Tote lag da mit einem sanften Ausdruck von Ruhe und Frieden auf dem blassen, jungen Gesicht, und von fernher erklang das Lied der heimkehrenden Wallfahrer:

„Ave Maria –
Du nimmst die Sorgen,
Du gibst das Beste uns, du bist gut,
Du gibst das Beste, in deiner Hut
Sind wir geborgen!“
 
Heimatkalender des Kreisses Rosenberg O/S 1935
Anmerkung: In einem früheren Heimatkalender erschien ein Aufsatz über die oberschlesische Schriftstellerin Valeska Gräfin Bethusy-Huc, geb. von Reiswitz. Sie stammt aus Kielbaschin, Kr. Rosenberg OS. Wir bringen eine ihrer kleinen Erzählungen, die dem Reklamheft Nr. 4240 „Oberschlesischen Dorfgeschichten“ entnommen ist.
Seite 144
Red. Bemerkung zur Erzählung „Die Wallfahrer“. „Wir entnehmen diesen Beitrag den „Oberschlesischen Dorfgeschichten“ von Gräfin Bethuny-Huc, die unter dem Pseudonym Moritz von Reichenbach in Reclams Universal-Bibliothek erschienen sind (U.-B. Nr. 420, 35 Pfg.). in der gleichen Sammlung liegt von der Verfasserin auch noch vor: „Der Roman eines Bauernjungen“  (U.-B. Nr. 4368/69, 70 Pfg.). Die billigen Ausgaben der Werke unserer Heimatdichterin empfehlen wir ganz besonders.“
Von verschiedenen Geistern und unserer Teufelsmühle
(Aus dem Vorwort zum „Teufelsmüller“, einer dramatisierten Sage aus dem Rosenberger Land von Lehrer Kraffczuk, Bronietz.)

„Du oberschlesische Heimat, du wälderrauschendes Land“; so fingt unser Heimatdichter und erhebt damit den Wald zum Wahrzeichen unserer Heimat. Mir aber will es scheinen, wie wenn der Wald auch das Wahrzeichen des oberschlesischen Menschen wäre, dessen Seele er seit Jahrhunderten beeindruckt hat. Noch vor 200 Jahren, da unser großes deutsches Vaterland durch Werke der Kultur und Zivilisation der übrigen Welt schon längst erschlossen war und die Pflugschar seine lichten Aecker furchte, da träumte unser Oberschlesien inmitten weiter Wälder seinen naturnahen Dornröschenschlaf. Und inmitten dieser Wälder wohnten unsere Ahnen, jahrhundertlang. Jahrhundertlang standen sie im geheimnisvollen dunkel unserer Wälder, jahrhundertlang rauschte ihm die gewaltige Symphonie unserer Wälder durch die Seele. Was wunder, daß in diesem Zwielicht die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits verwischt wurden und das Volk das Unerklärliche seiner Umwelt in dichterischer Gestaltungskraft zu deuten suchte! Darum poltert bei und in Schründen und Felsspalten der Erdgeist; in Tümpel und Untiefen kobolzt der Wassermann und über Mooren und Niederungen funkeln verführerisch die Irrlichter. Aber selbst in den Behausungen war man vor der Geisterwelt nicht sicher, vor Heren, Druckgeistern und dem Bösen gar. Diesen insbesondere läßt das Volk gern im Gewande des Jägers einherziehend, wie es alle Volkssagen und Volksmärchen bestätigen.

Doch, es ist nicht das dämonische allein, das solchen Ausdruck fand, auch das Soziale war hier mitgestaltend; denn was bedeutete schon damals der geringe Mann? Meistens stand er ratlos seinem Peiniger gegenüber. So ließ das Volk wenigstens den Satan besorgen, wozu es selbst keine Macht besaß, es ließ seine Peiniger – eine Art Volksrache  in die Hölle fahren. In diesem Zusammenhange wundert es nicht, daß es insbesondere Müller sind, an denen sich der Volksglaube erfüllen soll. In jener Zeit, da Hungersnöte des öfteren unsere Heimat aufsuchten und das Brot als seltene Gottesgabe achtungsvollste Verehrung genoß, da war der Betrug am Mahlgut eine himmelschreiende Sünde. Ein solcher Müller ward zum Teufelsmüller; dem Teufel war seine Seele verfallen, der Hölle seine Teufelsmühle, Soche oder ähnliche Gesanken steigen in uns auf, wenn wir unser Oberschlesien durchwandernd, an sagenhaften Mühlen dieser Art vorüberkommen.

Eine solche Mühle stand im Rosenberger Kreis, zwischen den Gemeinden Bronietz und Radlau, mitten im Walde. Nach einer alten Sage soll hier ein Müller gehaust heben, der, um sein Geschäft zu heben, dem Teufel seine Seele verschieben hat. Gegen Lebensende soll sich der Müller durch ein bußfertiges Leben vom Teufel und seinem Packt gelöst haben. Nach einer anderen Darstellung wurde er jedoch von Satan geholt. Die Mühle ist aber mit Getöse versunken. So weit die Sage. – Es ist klar, daß diese Sage nur nach Schaffung eines neuen Personen und zum Teil auch Sachverhältnisses auf der Bühne lebendig werden konnte. De Volksglaube, der Müller hätte sich bei seinem eigennützigen Treiben des Alkohols bedient, eines selbstgebrannten Teufels, liefere für das Spiel den bezeichnenden Hintergrund. So formte sich aus den Nebeln der Versunkenheit vor unserem Auge die hagere Gestalt eines berechnenden Geizhalses, der die Gutmütigkeit und Vertrauensseligkeit seiner Umwelt, kleiner Waldbauer und armer Holzknechte, wohl zu nützen versteht. Und, wenn die Elemente der vergangenen Epoche nur halbwegs zur Geltung kommen sollten, müßte das Bühnenstück ein dämonisches Gemälde werden, ein Heimatstück, wurzelnd in verklungener Wälderromantik, aus dem uns die Stimme unseres Blutes vertraut entgegenklingt.